Alle Modelle sind falsch, einige sind nützlich
Dieses Zitat des englischen Mathematikers George E.P. Cox unterstreicht, dass Wissen und Wirklichkeit zwei Paar Schuhe sind, die nicht immer etwas miteinander zu tun haben.
Am Beispiel eines der Prinzipien der agilen Software-Entwicklung ist mir dies deutlich geworden: “Die besten Architekturen, Anforderungen und Entwürfe entstehen durch selbstorganisierte Teams.”
Mein Modell hierzu war bisher sehr einfach gestrickt: Selbstorganisiert ist ein Team, wenn es selber bestimmt, welche Ergebnisse wie zu erzielen sind und dabei nicht durch Vorschriften, Anweisungen oder gar Befehle eingeschränkt wird.
Scott Ambler hat dieses Prinzip das radikalste der hinter dem Agilen Manifest stehenden Prinzipien genannt. Das hätte mir zu denken geben können.
Die Unterzeichner des Agilen Manifests beziehen sich auf Ideen aus der Systemtheorie. Dort bezeichnet Selbstorganisation die Fähigkeit eines Systems, sich aus sich selbst heraus zu organisieren, ohne dass erkennbare äußere steuernde Elemente vorliegen.
Mein bisheriges Verständnis kann mit “Mischt euch nicht ein!” zusammengefasst werden kann, das der Systemtheorie mit “Steuert nicht!”
Ein System, in das sich niemand von außen einmischt, nennt die Systemtheorie geschlossen. Ein System, welches mit seiner Umgebung in Wechselwirkung und ständigem Austausch steht, heißt im Gegensatz dazu offen. Ein selbstorganisiertes System behält seine innere Struktur und seinen inneren Zweck trotz dieser Interaktionen. Es ist in der Lage, sich seiner Umgebung anzupassen, ohne sich aufzugeben.
Wenn man von Teams innerhalb eines Unternehmens redet, dann redet man offensichtlich über offene Systeme. Die Wechselwirkung zwischen einem Team und seiner Umgebung kann in einem Unternehmen nicht einfach abgeschaltet werden. Wenn also selbstorganisierte Teams angeblich die besten Ergebnisse liefern, geht es nicht primär um deren innere Organisation und schon gar nicht um ihre Isolation vom Rest des Unternehmens. Es geht um die Form der Wechselwirkung mit der Umgebung, also dem Unternehmen, in dem ein Team gute Ergebnisse erzielen soll.
Damit stellt sich automatisch die Führungsfrage. Wenn es keine erkennbaren äußeren steuernden Elemente gibt, wie sieht dann Führung aus? Wird sie überhaupt benötigt?
Auf der QCon 2009 hat Joseph Pelrine versucht diese Wechselwirkung anhand zweier Modelle zu verdeutlichen: zum einen hat er Forschungsergebnisse zu einer Schleimpilzart präsentiert, die in der Lage ist, in einem Labyrinth den kürzesten Weg zu einer Nahrungsquelle zu finden (Nature 407, 470 / 28 September 2000). Danach erläuterte er anhand von Hühnersuppe, dass nur die richtige Menge an zugeführter Energie für den Kocherfolg entscheidend ist.
Ich halte beide Modelle für falsch. Zumindest als Modelle für die Beziehung von selbstorganisierten Teams zu ihrer Umgebung. Der Schleimpilz “reagiert” zwar auf seine Umgebung, die Umgebung eines selbstorganisierten Teams wird jedoch, anders als das Labyrinth, in dem sich der Schleimpilz bewegt, durch das Team beeinflusst und verändert.
Und die Zutaten einer Hühnersuppe sind keine Agenten innerhalb eines Systems. Sie haben keine Wahlmöglichkeit bezüglich ihrer Reaktion auf die zugeführte Energie. Dieses Modell mag nützlich sein, das Diktum “Pressure makes diamonds” zu konterkarieren, da erwidere ich jedoch lieber “Pressure makes garbage more compact.”
Ihre Vereinfachungen haben mich dazu veranlasst, meine bisherige Position zu diesem agilen Prinzip kritisch zu hinterfragen, zu vertiefen und zu verändern. Selbstorganisation ergibt sich nicht automatisch, indem man in Ruhe gelassen wird. Selbstorganisation ist eine Eigenschaft, die ein Team nicht notwendigerweise aus sich selbst heraus besitzt. Wenn Selbstorganisation ein Erfolgsfaktor ist, dann ist dies also eine Lern- und Erfahrungsaufgabe. Dies wiederum geschieht insbesondere durch die Interaktion des Teams mit seiner Umgebung, mit der Hierarchie, die es üblicherweise in Unternehmen gibt. So die Umgebung dies zulässt. Dies ist eine Führungsaufgabe.
Ich verstehe nun, warum das 1970 von Robert Greenleaf veröffentlichte Modell der dienenden Führung (servant leadership) in diesem Zusammenhang wieder hip geworden ist. Scheint es doch den inhärenten Widerspruch selbstorganisierter Teams in Unternehmen mit hierarchischen Strukturen aufzulösen. Doch auch dieses Modell unterliegt dem Cox’schen Postulat. Es erlaubt, Alternativen zu einer steuernden Führung zu entwickeln, ist aber allein kein Garant, dass sich Selbstorganisation entwickelt.
Hinzukommt, dass der Begriff “Steuerung” durchaus interpretationsfähig ist und manche Impulse der Umgebung von einem Team auch dann als Steuerung wahrgenommen werden können, wenn es sich de facto nicht um eine Steuerung sondern um andere Formen der Interaktion handelt. Gerade bei der Einführung von agilen Methoden in ein Unternehmen kann dies zu nicht unerheblichen Friktionen führen.
Damit bin ich nach meinem jetzigen Verständnis bei der Kernfrage angelangt, die das hier betrachtete Prinzip agiler Softwareentwicklung aufwirft und die durch Beschäftigung mit diesem Prinzip zu beantworten ist: Wie erhält man selbstorganisierte Teams, deren Eigenorganisation kohärent zum Zweck des Unternehmens ist?